103 Jahre Lebenskunst: Emilia Weigel überstand Krieg, Gefängnis und Enteignung, zieht ihre Familie zusammen und bleibt aktiv und positiv.
Emilia Weigel sitzt in ihrem Lieblingssessel, noch immer erstaunlich fit und sehr angenehm im Umgang. Ihre Augen, nach einer Operation wieder klar und scharf, lassen sie besser sehen als ihren Sohn. Im Wohnzimmer liegen Kreuzworträtsel, die sie immer noch mit wachen Verstand löst. Ein kleines Bier steht griffbereit, und zwischen Zeitung, Fernsehprogramm und Rätseln blitzt ihr Humor durch. Stadträtin Gabi Wolf betritt das Wohnzimmer und überbringt die Glückwünsche von Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende, – dazu etwas Süßes, Pralinen von Kunder. Auch Hessens Ministerpräsident lässt grüßen.
Geboren in Bulgarien, Tochter eines Industriellen
Emilia kam 5. Oktober 1922 in Bulgarien zur Welt, wuchs in einer deutschstämmigen Familie auf. Ihr Vater führte vor dem Zweiten Weltkrieg eine Lederwarenfabrik, später fertigte er Schuhe an. Das Geschäft florierte, bis die Familie nach Kriegsende enteignet wurde. Erinnerungen an den Geruch von Leder, geschäftige Werkhallen und die Mitarbeitenden bleiben ihr bis heute – ein Fenster in die Vergangenheit, das sie gern öffnet.
Zwischen Nonnenschule und katholischer Schule
Zunächst besuchte Emilia eine Nonnenschule, nach dem Umzug nach Bukarest eine katholische Schule – kein Internat, sie wohnte bei der Familie in der Stadt. Nach dem Abitur studierte sie in Bukarest Französisch und Rumänisch, vertiefte ihre Sprachkenntnisse und bewegte sich sicher zwischen den Kulturen, die sie umgaben. Einen Beruf hat sie jedoch nicht ergriffen. In den letzten Kriegsjahren lernt sie ihren Mann Theodor kennen. 1947 heiraten sie, 1948 kommt erst Alexander zur Welt, etwas später dann Michael.
Liebe, Krieg und Flucht
Emilias Bruder studierte während des Zweiten Weltkriegs an der Technischen Universität Wien Hoch- und Tiefbau. Dort lernte er Theodor Weigl kennen, und zwischen den beiden Männern entwickelte sich eine enge Freundschaft. 1943 oder 1944 zog es Theodor dann nach Rumänien – dort begegnete er Emilia. Zwischen ihnen entfaltete sich eine besondere Verbindung, doch die politische Lage ließ keinen einfachen Weg zu. 1947 heiraten sie. Nach der Geburt der Kinder geriet Theodor aufgrund russischer Akten aus Deutschland in Gefangenschaft und saß bis 1954 im Gefängnis, erst nach Stalins Tod wurde er freigelassen.
In der Zwischenzeit zog Emilia die beiden Söhne Alexander und Michael alleine groß. Sie kümmerte sich um die Familie, organisierte den Alltag und hielt das Familienleben zusammen. Als Theodor wieder bei der Familie war, sorgte sich Emilia in erster Linie darum, dass sie überlebten. Erst nach zwei Jahren Berufsverbot konnte Theodor als Ingenieur in Bukarest wieder arbeiten und den Lebensunterhalt übernehmen. Emilia blieb stets der Anker, der die Familie zusammenhielt – ein Leben voller Mut und Fürsorge.
Alltag, Humor und Lebenskunst
Theodor Weigel stammte aus Rüsselsheim, wodurch Emilia Kontakte nach Deutschland hatte. 1986 zog sie nach Wiesbaden, in die Nähe von Hochheim und Rüsselsheim, wo familiäre Beziehungen ihres verstorbenen Mannes bestanden. Seit fast 40 Jahren lebt sie nun in der Kastellstraße. Ihr Sohn Alexander folgte Anfang der 1990er Jahre, hatte aber schon lange vorher einen deutschen Pass. Wodurch das Übersiedeln nach Wiesbaden einfach war. Heute wohnt er zwei Stockwerke über seiner Mutter und besucht sie nicht nur täglich, sondern kocht auch für sie. Alexander Weigel war Techniker im Gesundheitswesen bei dem amerikanischen Pharmaunternehmen Abot in Schierstein und ist seit 13 Jahren Rentner.
Emilia selbst ist ein positiver Mensch, eine Kämpferin von Natur. Während ihr Mann im Gefängnis saß, kümmerte sie sich um die Kinder, hielt die Familie zusammen und bewahrte Humor und Lebensfreude. Heute löst sie Kreuzworträtsel, schaut Fernsehen, genießt kleine Bierchen und nascht Süßigkeiten – und strahlt dabei die Energie eines Lebens aus, das von Widerstandskraft, Liebe und Humor geprägt ist.
103 Jahre Geschichte im Wohnzimmer
Ihr Leben erzählt von Industrie, Krieg, Enteignung, Bildung, Flucht, Ehe und Neubeginn. Gefeiert wurde bereits am Sonntag im engsten Kreis, – zusammen mit den beiden Söhnen. Die Enkel und Urenkel waren nicht dabei, ließen aber durch die Söhne sie ihre besten Glückwünsche überbringen, – mann wollte Emilia an ihren 103ten Geburtstag nicht überfordern.
Foto ©2025 Volker Watschounek
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